Textatelier
BLOG vom: 30.10.2021

Kolumnen: Neues aus der Hebelstraße, Folge I

Autor: Wernfried Hübschmann, Lyriker, Essayist, Hausen im Wiesental

Der in Hausen im Wiesental, im „Hebeldorf“ (ein Schelm, wer hier an Werkzeug denkt!) wohnende Schriftsteller Wernfried Hübschmann schreibt seit einigen Monaten regelmäßig unregelmäßig Kolumnen für die lokale „Hausener Woche“. Wir bringen hier in Abständen jeweils 3 von 15 bisher erschienenen Texte und ergänzen künftig das nachwachsende Textkraut und seine (Stil)Blüten. Viel Vergnügen!

 

Das Rätsel der Wurzel

In dieser Kolumne kommentiert Wernfried Hübschmann aktuelle Ereignisse mit spitzer Feder und mildem Augenzwinkern. Das Rätsel der Wurzel. Den ersten Mai kann ich mir eigentlich nur in Kombination mit herrlichem Sonnenschein vorstellen, mit Kaiserwetter also, nur ohne Kaiser. Dass es diesmal anders kam, hat mich wirklich verwirrt. Dauerregen ist so etwas wie Ausgangssperre von ganz oben. Überhaupt passieren zurzeit viele Dinge, die mich verwirren: Armin Laschet holt Friedrich Merz in sein Wahlkampfteam! Das ist so, als würde Joe Biden Donald Trump als Integrationsbeauftragten engagieren. Oder als Botschafter nach Mexiko schicken. Überhaupt die K-Frage. Olaf Scholz wirkt so kämpferisch wie eine Weinbergschnecke, die in der Stierkampfarena bedrohlich ihre Hörner senkt. Olé, Olaf! Und die FDP sitzt unterm Lindner-Baum am Brunnen vor dem Tore und meditiert. Nur die Grünen lächeln uns in Gestalt von Annalena Baerbock zukunftsfroh und rosenbackig entgegen. Diese Phase ihrer Kandidatur, die Monate bis zum 26. September, wird die beste gewesen sein, ein unvergesslicher Sommer in wieder geöffneten Biergärten. Falls Frau Baerbock wirklich Kanzlerin werden sollte (per heute wäre das so!), wird sie weniger lächeln, das steht fest. Sind wir dabei, den Baerbock zum Gärtner zu machen? Na, über die AfD schreibe ich lieber nicht, es soll ja eine lustige Kolumne werden. Und in meinem Hochbeet ist eine der kleinen Salatpflanzen von heut auf gleich kollabiert, hat schlappgemacht und war nicht wieder aufzurichten. Während alles übrige im Nieselregen prächtig gedeiht. Eine Art Gartenopfer. Ich habe die Wurzeln untersucht und den kundigen Nachbarn befragt, vergebens. Es gab Zeiten, da war der 1. Mai auch in Hausen ein Arbeiterkampftag, mit Umzug, Hebelmusik und roten Fahnen. Heute kämpfen wir nur noch um die Wurzeln von Salatsetzlingen. Ein trauriger Rest von Radikalität. Das Wort „radikal“ kommt vom lateinischen radix, das heißt Wurzel. Jetzt haben wir den Salat. Und das am Tag der Arbeit. Fehlt nur noch das passende Dressing. Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschman.

 

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Der Hebelfest-Phantomschmerz-Indikator

Geht es Ihnen auch so? Das fehlende Hebelfest hinterlässt eine Art Phantomschmerz. Etwas ist nicht da – und dennoch spürbar. Nun, es gibt auch Erfreuliches. Ich habe nach der ersten Hebel-Kolumne einige Fanpost bekommen. Wenn schon Fasnacht, Hebelfest und Open-Air-Konzerte ausfallen, dachte ich, und wir sonst wenig zu lachen haben, muss doch wenigstens die „Hausener Woche“ – dachte ich. Es gab auch ein paar schrille Zwischenrufe, klar. Bei Johann Peter Hebel gibt es eine herrliche Kalendergeschichte (1808) mit dem Titel „Seltsamer Spazierritt“. Sie passt wunderbar zu unserem Thema, daher drucken wir sie hier vollständig ab: „Ein Mann reitet auf seinem Esel nach Haus und lässt seinen Buben zu Fuß neben her laufen. Kommt ein Wanderer uns sagt: Das ist nicht recht, Vater, dass Ihr reitet und lass Euren Sohn laufen; Ihr habt die stärkeren Glieder. Da stieg der Vater vom Esel herab und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: Das ist nicht recht, Bursche, dass du reitest und lässest deinen Vater zu Fuß gehen. Du hast jüngere Beine. Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wandersmann und sagt: Was ist das für ein Unverstand, Zwei Kerle auf Einem schwachen Tier. Sollte man nicht einen Stock nehmen, und euch beide hinabjagen? Da stiegen beide ab und gingen selb Dritt zu Fuß, rechts und links der Vater und Sohn, und in der Mitte der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: Ihr seid Drei kuriose Gesellen. Ists nicht genug, wenn Zwei zu Fuß gehen? Geht’s nicht leichter, wenn Einer von euch reitet? Da band der Vater dem Esel die vordern Beine zusammen, und der Sohn band ihm die hintern Beine zusammen, zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand, und trugen den Esel auf der Achsel heim. So weit kann’s kommen, wenn man es allen Leuten will recht machen.“ (J.P. Hebel, Sämtliche Werke, III,98) Merke: Hebel lesen bildet und bereitet uns auf die Widrigkeiten des täglichen Lebens vor. Nicht nur im schönen Wiesental. Dank dem Hausfreund! Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschmann.

 

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Früher war mehr Vatertag

Dort, wo ich aufgewachsen bin, in der Oberpfalz bei Regensburg, war am Vatertag echt was los. Die Väter hatten die Ladeflächen ihrer Trecker mit Strohballen gepolstert, ein 50-l-Fass Bier hochgewuchtet und anderen Proviant eingepackt, der unter normalen Vorzeichen bis Finnland gereicht hätte. Dann zogen die wilden, aber harmlosen Horden durch die Straßen. Oder flohen bei schlechtem Wetter in die Scheune eines der beteiligten Landwirte. Ich habe mich als Kind gefragt, ob bei diesem Besäufnis eigentlich Junggesellen oder frisch Verheiratete zugelassen waren. Für die Frauen war das grossartig. Sie konnten ungestört im Haus tun, wozu sie sonst nicht kamen und mussten auch nicht den verbrannten Toast und das steinharte Frühstücksei ertragen, mit dem sie am Muttertag geweckt worden waren. Obwohl sie doch eigentlich ausschlafen wollten. Die Vorstellungen von Freiheit sind nun mal sehr unterschiedlich. Jedenfalls, am Vatertag wurde es irgendwann still im Dorf, abgesehen vom Glockenläuten. Schließlich ist der Vatertag zugleich ein christlicher Feiertag. Aber Vorsicht: Christi Himmelfahrt ist älter als der Vatertag, der nur eingerichtet wurde als etwas hilfloses Gegenstück zum Muttertag. Als ausgleichende Ungerechtigkeit, sozusagen. Der Muttertag wiederum wurde geschaffen zur Rettung der holländischen Blumenindustrie, das ist offensichtlich. Warum gibt es eigentlich keinen „Tag der Kinderlosen“? Oder einen „Tag der zweimal Geschiedenen“? Einen „Tag der pubertierenden Töchter“ oder einen „Tag der heillos zerstrittenen Familie“? Da muss doch für jeden was dabei sein! Jedenfalls: Der Tag nach dem Vatertag ist ja immer ein „Brückentag“. Das ist praktisch, weil die Väter dann den Blutalkoholspiegel kontrolliert absenken können. Über sieben Brücken musst du wanken. Und dann kommt gleich das Wochenende. Vielleicht sollten wir den Brückentag nach dem Vatertag in „Tag der Brücken“ umbenennen. Schöne Grüsse an Peter Maffay und Simon & Garfunkel – bridge over troubled water! Warum fällt mir beim Thema „Brückentag“ auch noch mein Zahnarzt ein? Ich sag’s ja: Früher war mehr Lametta – und mehr Vatertag! Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschman

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